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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 3/2007

Levy, Oscar

Die Exkommunizierung Adolf Hitlers. Ein Offener Brief


Mein Führer,

es wird Sie erschüttern, bis ins Mark erschüttern, daß jemand, der noch nicht einmal deutscher Staatsbürger ist oder sich rühmen kann, einen Tropfen Ihres edlen arischen Blutes in seinen Adern zu haben, Sie in dieser Weise anredet. Doch ich muß Sie so anreden, weil wir dieselbe Weltanschauung haben, wir sind Brüder im Geiste, wir nennen uns beide stolz Schüler des Philosophen Friedrich Nietzsche.

Zumindest werden Sie als ein solcher von Ihren deutschen Anhängern verehrt; sie bezeichnen Sie als seinen fleischgewordenen Geist, sie rühmen Sie als eine Annäherung an den Übermenschen, wenn nicht gar als dessen Verkörperung. Das glauben Sie bestimmt selbst nicht – doch Sie haben gewiß großes Interesse an Nietzsche und bemühen sich, auch ihre Landsleute für ihn zu interessieren.

Bereits vor Ihrer Machtergreifung waren Sie oft zu Gast bei Elisabeth Förster-Nietzsche, in deren Villa in Weimar, wo Nietzsche seine letzten Jahre verbrachte. Sie ließen sich neben Klingers Nietzsche-Büste fotografieren, und diese malerische Einheit »verwandter Geister« wurde in vielen deutschen Publikationen abgebildet. Als Nietzsches Schwester starb, waren Sie so liebenswürdig, ihr die letzte Ehre zu erweisen und sie zu ihrer letzten Ruhestätte zu geleiten. Seit ihrem Tod haben Sie durch großzügige Spenden das Nietzsche-Archiv unterstützt, welches sich dank Ihrer fortdauernden Anteilnahme vergrößern und unter fachmännischer baulicher Anleitung zu einem würdigen Wallfahrtsort für weitere deutsche Nietzscheaner entwickeln kann.

Wer Nietzscheaner sein will, muß, laut Nazi-Ideologie, Deutscher sein. Andere Völker werden vielleicht stillschweigend geduldet, aber absolut ausgeschlossen ist die jüdische Rasse, der es nicht einmal gestattet ist, das Wasser deutscher Kurbäder zu trinken, und die diesen neuen Tempel und die offiziellen Quellen Nietzschescher Weisheit in Weimar keinesfalls verunreinigen darf.

Wie also, frage ich, kommt es, daß diese jüdische Rasse sich so für Nietzsche interessiert? Daß sein Entdecker, der Mann, der ihn als erster einer unwissenden Welt präsentierte, und zwar zu einer Zeit, als Nietzsche in seinem Vaterlande nur verlacht wurde, daß dieser Mann, Georg Brandes aus Kopenhagen, weder Deutscher noch Arier war? Ohne ihn hätte den »Zarathustra« sehr leicht das Schicksal von Schopenhauers »Welt als Wille und Vorstellung« ereilen können: er wäre von einem enttäuschten Verleger womöglich eingestampft worden und hätte nie die Auferstehung erlebt, die Schopenhauers berühmtes Buch vorm ewigen Vergessen bewahrte. Und wie kommt es, daß ich, der Nietzsche-Pionier der angelsächsischen Welt, ebenfalls Jude bin, der, das können Sie mir glauben, immer wieder staunt, daß Sie, der Held der Volksversammlungen und Massenkundgebungen, sich das exklusive Credo des Einsamen von Sils Maria aneignen. Politik, heißt es, macht seltsame Bettgenossen, aber die Philosophie auch?

Wie kommt es, daß Sie und ich dieselbe Weltanschauung haben? Nach Ihren Glaubenssätzen zählt nur das Blut und nicht der Geist. Sie sagen, schon das Blut eines einzigen jüdischen Großelternteils genüge, den Geist für immer zu verderben und den Sprößling für höheres Denken, Fühlen und Handeln untauglich zu machen. Falls Abstammung überhaupt feststellbar ist – denn gegen Versuchungen sind Frauen aller Rassen nicht gefeit –, so habe ich seit Moses ausschließlich jüdische Vorfahren, ja, da ich Levit bin, kann ich meine Herkunft bis zu diesem Gesetzgeber zurückverfolgen, der Mitglied meines Stammes war. Wie also ist es möglich, daß wir, wiewohl verschiedenen Rassen zugehörig und einander so fern wie Himmel und Hölle (wobei Sie natürlich im Himmel sind), doch übereinstimmen in unseren Moralvorstellungen, in unseren Ansichten hinsichtlich dessen, was gut und böse ist, also in den geheimsten Fragen von Herz und Hirn, Wille und Vision?

Entweder ist Ihre (und auch Nietzsches) Theorie, daß »Blut Geist ist«, falsch, oder Nietzsche ist nicht der, für den Sie und Ihre literarischen Berater ihn halten.

Ich denke, letzteres trifft zu.

Ich denke, daß Nietzsche die von Ihnen vertretenen Werte zutiefst zuwider wären – da es nicht seine sind, sondern die einer längst vergangenen Zeit, die Sie, in typisch deutscher Manier, wiederbeleben wollen.

Nietzsche war kein Nationalist, aber Sie sind einer. Nietzsche war kein Sozialist, aber Sie sind einer. Nietzsche war kein Antisemit. Falls aber doch, dann nicht in Ihrem Sinne des Wortes, denn er schätzte die Intelligenz jener Menschen, die Sie jetzt aus dem Lande treiben. Er sah in ihnen die wahren Jünger seiner Botschaft, denn er besaß, schon während seines bewußten Lebens, zahlreiche Anhänger unter ihnen. Prophetisch schrieb er an einen Freund: »Man wird nicht unsterblich ohne diese unsterbliche Rasse.« Die Antisemiten nannte er »Schlechtweggekommene«; und wohl aus Groll über seine Vereinsamung erklärte er, »welche Wohltat ist ein Jude unter Deutschen«. Ein andermal schrieb er: »Der Himmel erbarme sich des europäischen Verstandes, wenn man den jüdischen Verstand davon abziehen wollte!« Ja, er hat diesen Verstand wohl überschätzt, zumindest was die deutschen Juden und deren Mangel an Weitblick betrifft, der es Ihnen relativ leichtgemacht hat, sie um ihr Hab und Gut zu bringen.

Wie dem auch sei, Nietzsche interessierte sich mehr für die Juden (und hat dies zugegeben) als für sein eigenes Volk. Er wußte, Blut ist wichtig, freilich nicht das Blut der Nazis. Er wußte, daß nicht jeder das Reich des Geistes betreten dürfe, daß für das Studium der Philosophie, und mehr noch für die Reform von Philosophie und Theologie, eine lange Ausbildung und ererbte Fähigkeiten notwendig seien. Vermutlich hat er vorausgesehen, daß die Rasse der Psalmisten, Propheten und Apostel – nachdem sie die ganze Welt zu ihrem Ideal bekehrt hatte –, oder zumindest einige davon, auch neue Werte anerkennen würde, nun, da ihre alten sich als unzureichend, ja als gefährlich erwiesen hatten. Er würdigte die Juden nicht nur als eine konservative, sondern auch als eine revolutionäre Rasse – nur nicht in Ihrem Sinne, Herr Hitler! – und glaubte, etliche von ihnen würden, mit Ihrem Landsmann Goethe, dereinst erkennen:

Alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

»Im Sein beharren!« Ach, hätten Sie dies nur getan! Statt dessen haben Sie, wie Nietzsche prophezeite, einen »Schleichweg zum alten Ideal« zu finden gewußt, zu den alten Werten, zu den Gespenstern der finsteren Zeiten – zum Mittelalter und Vor-Mittelalter!

Das war mitnichten das Ideal des Friedrich Nietzsche! Er kannte die Feinde seines Ideals: Ihr Volk.

Man nennt Sie, was zu Bedenken Anlaß gibt, den Wohltäter dieses Volkes. Aber sind Sie auch der Wohltäter Europas?

Nietzsche war, wie Sie wissen, ein »guter Europäer«. Und sind Sie der Wohltäter der Welt? Das wollte Nietzsche sein, wie Sie sich wohl erinnern. Der Wohltäter meines Volkes sind Sie jedenfalls nicht. Doch darum sorge ich mich weniger, als Sie denken. Die Juden sind Unheil gewöhnt, sie brauchen es sogar, weil sie sonst einschlafen würden, so wie die Juden Ihres Landes. Was deren Zukunft betrifft: Das einzige Volk, dem Sie vielleicht noch nützen, sind die Juden. Was mich viel mehr bedrückt, das ist der ungeheure Schaden, den Sie meiner Missionsarbeit für Nietzsche zugefügt haben und weiter zufügen. Ich sage Ihnen auch, warum.

Als ein Beförderer von Nietzsches Botschaft in der angelsächsischen Welt hatte ich es sehr schwer. Ich hatte es mit einer Öffentlichkeit zu tun, die halb imperialistisch, halb calvinistisch war – und wie Sie wissen (oder nicht wissen), war keine dieser Eigenschaften nach Nietzsches Geschmack. Ich übertreibe nicht, wenn ich erkläre, alles, was »unser« Meister zu sagen hatte, war gänzlich unvereinbar mit dem, was jeder brave Brite in seinem tiefsten Innern fühlte und dachte. Und deshalb ist der erste Versuch, Nietzsche in England einzuführen, auch fehlgeschlagen, und zwar dermaßen, daß sein Verleger vors Konkursgericht kam. Als Frankreich bereits zehn Jahre über eine vollständige Nietzsche-Übersetzung verfügte, kannte England das Werk nicht einmal flüchtig. Öffentlichkeit und Verleger hatten seinen Namen nie gehört: Ich mußte ihn buchstabieren, und die vielen Konsonanten belustigten sie, so daß sie den Klang von »Nietzsche« mit Niesen verglichen.

Ich jedenfalls, des seien Sie versichert, fand es nicht lustig, mit meinem Angebot von einem Verlag zum anderen zu laufen und überall nur höflichem Achselzucken zu begegnen. Manchmal auch bloß Achselzucken ohne Höflichkeit, und mindestens ein Verleger hat mir erklärt: »Wir wollen diese Deutschen hier nicht haben.« Deutsches Denken, das sollten Sie, der Bewunderer Ihres Volkes, wissen, war im Ausland schon damals sehr unbeliebt. Die Gründe dafür werde ich noch nennen.

Da ich überall nur eisig empfangen wurde und ein Ende meines Ärgers nicht in Sicht war, entschied ich, Übersetzung und Edition selbst zu finanzieren. Nach meines Vaters Tod war ich zu etwas Geld gekommen und beschloß, es in der einzigen Weise zu verwenden, die ich seines Andenkens und meiner Überzeugung für würdig hielt – für die Verbreitung eines Denkens, das ich, so wie auch Sie, für edel und heilsam erachte. So kam Nietzsche in die englischsprachige Welt, mit Hilfe jener dunklen, diabolischen internationalen Macht, in der Sie den Ruin unseres Universums sehen: mit Hilfe des jüdischen Kapitals.

Ich hatte einen kleinen schottischen Verleger aufgetan, der, da ich alle Kosten übernahm, bereit war, mein Mittelsmann zu sein und nichts dagegen hatte, sein Impressum auf meine Edition zu setzen. Allerdings mußte ich eine (nach englischem Recht nötige) Erklärung unterzeichnen, daß meine Übersetzung weder Verleumdungen noch Gotteslästerungen enthielte. Nietzsche-Adepten können sich vorstellen, daß ich nicht ganz ohne Zweifel und Zögern unterschrieb. Dies ist vielleicht nicht gar so wichtig – ich erwähne es bloß, damit Sie sehen, welch feindliche Welt sich mir entgegenstellte, als ich eine, nach meiner, und auch Ihrer, Ansicht wahre Botschaft des »Deutschtums« propagierte. Und leider muß ich ihnen berichten, daß der Verleger, obzwar gegen Verluste abgesichert, seinen moralischen Ruf dermaßen ruinierte, daß er, wie sein Vorgänger, bankrott ging wegen seines, wie er mir sagte, »unbedachten Nietzsche-Abenteuers«. Vom Verlust meines Rufes rede ich nicht.

Doch alle meine Sorgen und Bedenken waren verschwunden, als an einem sonnigen Junitag der achtzehnte Band meiner Übersetzung in den Schaufenstern der Londoner Buchhandlungen auftauchte. Ich weiß noch, wie ich erhobenen Hauptes durch den Hyde Park schritt, in dem Gefühl, einen großen Sieg errungen zu haben – einen Sieg über den allgemeinen Aberglauben und Stumpfsinn, denn ich hatte Nietzsches erhabenes Denken in englischer Sprache auf alle fünf Kontinente getragen. Eine schwere Last war mir vom Herzen gefallen – ich fühlte mich wie neugeboren. Das war 1913.

Ein Jahr später erfolgte Ihre »Erlösung« (wie Sie in Ihrem Buch schreiben). Der Krieg von 1914 war erklärt worden. Und Sie fahren fort: »Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, daß ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, daß er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.«

Natürlich waren Sie damals noch kein Nietzscheaner, und es war gut, daß auch die Welt noch nichts von Ihnen wußte. Wären Sie gewesen, was Sie heute sind, ein Nietzscheaner und eine Berühmtheit, hätten Sie mich noch mehr kompromittiert als heute. Es war so schon schlimm genug, denn Ihre nietzscheanischen Landsleute sind für Sie tatkräftig eingesprungen.

Die deutsche Literatur war, wie gesagt, schon vor dem Kriege sehr unbeliebt im Ausland – besonders die von Ihren Professoren inspirierte politisch-philosophische Literatur der Rechten. Europa hatte vieles von Ihren patriotischen Schriftstellern gelesen und argwöhnte langsam, was in Ihrem Kopf vorging, im Kopf des »Volkes der Dichter und Denker«. Allmählich dämmerte den Europäern, daß Ihr Alldeutschtum eine Ideologie war, die auf der Philosophie von Fichte und Hegel fußte: eine Ideologie mit einer Botschaft an das heilige und  auserwählte Volk, das sich bereits damals als Rasse, als Arier, als Germanen (so hießen die germanischen Erobererstämme des Mittelalters) bezeichnete. Diese Botschaft mußte verbreitet werden, auf daß andere, mindere Völker daran teilzuhaben vermochten. Sie hat Ihnen ungeheuer geschadet. Als Sie 1914 vier Staaten den Krieg erklärten, erschallte ein Aufschrei: Ihre verrückte nationalistische Literatur habe Ihnen den Kopf verdreht, und unter den Hauptübeltätern machte die Propaganda Ihrer Feinde als erste Treitschke, Bernhardi und Nietzsche namhaft.

Es war offenbar eine offizielle Propaganda, denn die großen englischen Zeitungen und Zeitschriften stimmten in die Schmähungen ein. Und obendrein eine ganz dumme, denn sie verdammte zwei echte Großdeutsche, Treitschke und Bernhardi, in einem Zuge mit ihrem Erz- und Todfeind: Nietzsche. Doch diese Propaganda war wirksam: Nietzsches mutige Worte, sein »Seid hart, Freunde«, sein »Immoralismus«, sein »Wille zur Macht«, seine »Philosophie mit dem Hammer« waren mühelos gegen ihn selbst zu richten und leicht verständlich für eine Öffentlichkeit, die keine Zeile von ihm gelesen hatte, und falls doch, mit dieser Propaganda durchaus einverstanden gewesen wäre. Sie war also dumm, aber das wissen Sie, und in »Mein Kampf« schreiben Sie ja auch, Propaganda müsse beschränkt und borniert sein, um bei der breiten Masse durchschlagenden Erfolg zu haben.

Wenige Tage nach der Kriegserklärung an England lag im Schaufenster einer Londoner Buchhandlung meine Übersetzung mit folgender Aufschrift versehen: »Der Euro-Nietzscheanische Krieg – lesen Sie den Teufel, um ihn besser zu bekämpfen«. Die Zeitungen druckten Leserbriefe und die Zeitschriften Artikel, die Nietzsches Freidenkertum als die Zerstörung von Heim und Heimat, als die Vernichtung Europas und der Religion anprangerten. Der Poeta laureatus Sir Robert Bridges schrieb an die Times und verkündete seinem Volk, Deutschland kämpfe für den Teufel, Nietzsche, und England für den Erlöser Jesus Christus. Sogar Punch, der geniale Punch, mußte in den Chor einstimmen und offerierte die witzige Zeile: »One touch of Nietzsche makes the whole world sin«.

Die Zensur wurde immer strenger, und da ich die Suppe allein auslöffeln mußte, konnte ich gegen die zustimmenden wie auch gegen die ablehnenden Töne nur wenige Erwiderungen anbringen. Dann, mitten in meinem einsamen Kampf, fiel man mir heimtückisch in den Rücken, weil ich Nietzsche gegen die angelsächsische Propaganda verteidigte. Und wer? Mein eigenes Volk, eben jenes, von dem Sie in Ihren Schriften sagen, es sei »das höchste Ebenbild des Herrn« und die »höchste Rasse«, mit der Gott in seiner Güte die Erde gesegnet habe.

Etliche Ihrer großen Geister, die Zierde des »höheren Menschen«, eilten meinen Feinden zur Hilfe. Einer von ihnen, der hochberühmte Gerhart Hauptmann, erklärte, die Deutschen seien deshalb so tüchtige Soldaten, weil sie die Bibel, Faust und »Also sprach Zarathustra« im Tornister mit sich trügen. An andere Patrioten kann ich mich nicht mehr erinnern, und ich bin stolz darauf. Aber die schlimmste, weil »offizielle« Verleugnung kam aus jenem Hause, das unter Ihrem besonderen Schutz steht: aus dem Nietzsche-Archiv in Weimar. Hier hatte der »Zeitgeist« sofort alles infiziert, und ein heftiger Anfall von Patriotismus hatte die Lehren von Sils Maria zu einer Stärkung für die Schützengräben in Flandern gemacht. Ein Sonderdruck, eine Kriegsedition, heute eine Rarität auf dem Buchmarkt, erschien, herausgegeben von Nietzsches geschäftstüchtiger und erleuchteter Schwester: eine Kriegsausgabe des »Zarathustra«, geziert von einem Vorwort mit zahlreichen aus dem Zusammenhang gerissenen und dadurch sinnentleerten Aphorismen, die das durch und durch großdeutsche Wesen dieses Philosophen bezeugen sollten, den ich an qualvollen Tagen und in schlaflosen Nächten in eine zutiefst feindselige Welt eingeführt hatte.

Das »Bekenntnis« von Weimar wurde mir vorgehalten, und es bedeutete das Ende meiner Arbeit in England. Jetzt gab es für den Förderer Nietzsches nur noch Ironie, und nach dem Krieg, als Deutschland gedemütigt im Staub lag, fragte die Times voller Verachtung: »Blonde Bestie, was nun?« Heiterer reimte ein bekannter Verseschmied:

The funny feature
About this Nietzsche
Is that the creature
Thought himself a teacher!

Hier ist anzumerken: Der Schlag gegen mein Lebenswerk kam nicht unerwartet. Seit meiner Jugend waren mir Deutschland und seine philosophisch-politischen Verlautbarungen und Vorsätze verdächtig gewesen. Da war vor allem ein Buch, dessen Erfolg in Deutschland am Ende des Jahrhunderts mir die Augen geöffnet hatte. Ein Buch, Herr Hitler, das Ihnen wohlbekannt ist und Sie in Ihrem Glauben gewiß befestigt hat: Es war Chamberlains »Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts«.

Gegen diesen »philosophischen« Engländer und eingebürgerten Deutschen, diesen neuesten Verkünder des geheimsten Denkens Vorkriegsdeutschlands, hatte ich in England meine Stimme erhoben – und zwar noch vor dem Kriege. Denn Chamberlain war, ohne jede Subvention, ins Englische übersetzt worden, und das 1911 veröffentlichte Buch hatte sofort überall Erfolg gehabt. Ich kann mich, bis hin zu Bernard Shaw, an keine echte Gegenstimme im Chor der Rezensenten erinnern: Keiner von ihnen ahnte auch nur, daß er hier eine Ladung Zündstoff importiert und hoch gelobt hatte, die, via Deutschland, Europa zerstören sollte. Nein, für sie hatte nicht Chamberlain, sondern Nietzsche das Pulvermagazin unseres Kontinents angesteckt. Der Mensch ist eisig gegen die Wahrheit und Feuer und Flamme für die Falschheit!

Die Warnung an England stand in meiner Einleitung zu Gobineaus »Die Renaissance«, 1912 geschrieben und 1913 bei Heinemann veröffentlicht. Eine zweite Edition erschien 1921 bei Allen & Unwin. Meine Einleitung war auch gedacht als eine Warnung an Deutschland vor gesellschaftlichem Größenwahn, vor der Todsünde des Stolzes, welcher, wie ich (auf S. 13) schrieb, der Hochmut sei, der »vor dem Fall« komme. Natürlich vermochte allein diese leise Stimme unseren dazu fest entschlossenen Kontinent nicht zu hindern, in sein Unglück zu laufen.

Im übrigen verteidigt mein Vorwort Gobineau, den Verfasser des »Versuchs über die Ungleichheit der Menschenrassen«: Ich wollte nachweisen, daß er, einer der wenigen tiefen Denker des 19. Jahrhunderts, mißverstanden worden war von Wagner, der ihn entdeckte und propagierte, vor allem aber von den Wagner-Jüngern und -Interpreten. Gobineau war ein Autor, dessen Wertvorstellungen aristokratisch und deshalb seiner und unserer Zeit fremd waren: Er glaubte nicht mehr an gleiche oder auserwählte Völker. Aber er erkannte, daß diese Werte unvermeidlich dominieren würden, und sah deshalb seine Zeitgenossen genauso pessimistisch, wie Chamberlain sie weiter optimistisch sah. Gobineau verspottete Darwins Wissenschaft, indem er sagte: »Nous ne descendons pas du singe, mais nous y allons«, während Chamberlain an den Fortschritt glaubte und daß zumindest die Teutonen vom unaufhaltsamen Abstieg zu den Affen ausgenommen seien. Gobineau prophezeite seiner Zeit ein schmähliches Scheitern, Chamberlain jedoch hielt diese für verheißungsvoll, sofern nur Deutschland eine neue Religion hervorzubringen vermochte.

Chamberlain, mit einer Tochter Wagners verheiratet, kannte Gobineaus Ideen, aber – und das gereicht dem Autor der »Grundlagen« zur Ehre – er lehnte sie ab, weil er irgendwie doch Christ geblieben war, Gobineau hingegen, obwohl nach außen hin weiter Katholik, war innerlich ein Skeptiker, ein Freidenker und hochgebildeter Mann von Welt, der lediglich aufzeichnete, was er mit ansah, und der den Mut besaß, einer Zivilisation die Stirn zu bieten, die immer rascher in ihr Verderben lief.

Mein Vorwort wies nach, daß Chamberlain, obwohl er es bestritt, von Gobineau erheblich beeinflußt war, daß er dessen Begriffe Rasse, semitisch, arisch, germanisch im Sinne der Modernität verfälscht hatte, vor allem aber im Sinne jener innig geliebten Nation, in der er ein Domizil gefunden hatte und etwas galt.

Das größte Renommee besaß er bei Wilhelm II. Durch das Aufsehen, das sein Buch in Deutschland erregt hatte, war auch der Kaiser auf ihn aufmerksam geworden. Man lud ihn ein, das Werk Seiner Majestät persönlich vorzustellen. Das scheint ihm eindrucksvoll gelungen zu sein, und die »Grundlagen« wurden für den frommen Monarchen zu einer Art Bibel. Er ließ sie kostenlos an höheren Schulen verteilen; er las den Damen am Hofe daraus vor, bis sie einschliefen; und bei einer Auslandsreise rügte er den britischen Premier Asquith, der »bloß mal reingeschaut« hatte. Während des Krieges verlieh er Chamberlain das Eiserne Kreuz. Nach dem Krieg wurde sein Briefwechsel mit ihm in Deutschland publiziert.

Das also ist der Autor, Herr Hitler, der Wilhelm II. mit seinen »Aufschneidereien« inspiriert hat – von der »gepanzerten Faust« bis hin zu »meine Humanität endet an den Vogesen« –, der Autor , der eine der wichtigsten geistigen Quellen der Kriegskatastrophe darstellte, bei dem auch Sie Auskunft und Rechtfertigung suchten. Es war Chamberlain, der Ihnen den Wunsch nach einer neuen Deutschen Religion eingab, welche die Welt retten und von einem Messias, von Ihnen, verkündet werden sollte.

Sie haben Chamberlain nicht bloß gelesen und bewundert: Sie haben ihn auch um ein Gespräch gebeten, und ein paar Jahre vor seinem Tode haben Sie den berühmten Autor der »Grundlagen« sogar besucht. So wie Chamberlain den Kaiser, so haben Sie Chamberlain beeindruckt. Sie hätten ihm, so schrieb er Ihnen, einen so langen erquickenden Schlaf geschenkt, wie er »einen ähnlichen nicht erlebt habe seit dem verhängnisvollen Augusttag 1914 … Sie sind ja gar nicht, wie Sie mir geschildert worden sind, ein Fanatiker … Sie sind aufgezehrt von der Glut der Vaterlandsliebe … Sie haben den Zustand meiner Seele mit einem Schlage umgewandelt … Gottes Schutz sei bei Ihnen«.

Kurzum: Johannes der Täufer gibt Jesus Christus seinen Segen. Dieser Vergleich, Herr Hitler, aus dem Neuen Testament, das Sie zu einem »nicht arischen « Buch erklären, wird Ihnen nicht gefallen. Und vermutlich erst recht nicht jener Satz aus dem Alten Testament, der diese Begebenheit sowie Ihren und den Rückfall Ihres Volkes in den alten Fehler einer neuen Patriotitis noch besser trifft: »Wie ein Hund sein Gespeites wieder frißt, also ist der Narr, der seine Narrheit wieder treibt.«

Dies alles aber stört mich im Grunde wenig. Folgen Sie ruhig, wie einst der Kaiser, Ihrem Chamberlain, und folgen Sie ihm zum selben Ende und Schlimmeren.

Deutschland interessiert mich nicht. Mich interessieren auch keine anderen Nationen und Völker, auserwählte inbegriffen. Der Begriff Auserwähltes Volk ist ein Widerspruch in sich, und zwar ein hanebüchener: Es gibt lediglich auserwählte Menschen, und auch davon nur ganz wenige, die sich in allen Nationen finden. Übrigens habe ich das Recht, Nationen, Völker und Rassen als belanglos abzutun. Meine eigene Rasse hat nicht auf meine Warnungen gehört. Und auch die Nation, an die ich sie vor allem richtete, hat sie in den Wind geschlagen. Ich war nicht nur ein Rufer in der Wüste, ich war ein Brüller im Universum, einer, der gegen das Schicksal anschrie. Gegen das Schicksal unserer Zeit. Ich kenne es, denn es ist mühelos aus seinem Ideal zu erschließen, und sei es noch so geheim. Heute stürzt sich alles in die Sklaverei, denn das ist der modernen Menschheit innigstes Begehren. Ein Sprichwort Ihres Landes lautet: »Wer nicht hören will, muß fühlen.« Heute fühlen die Menschen, sogar ganz tief, aber hören tun sie noch immer nicht … Nun ja, meinen Segen haben sie!

Was mir indes Sorge macht, und sogar große, ist die neue Religion, die Sie nicht in Ihrem, sondern im Namen eines höheren Menschen aufzurichten gedenken. Vor Ihrer Religion habe ich, trotz ihres großen Erfolges, keine Angst: Mich ärgert nur der Mißbrauch des Namens Nietzsche und daß Sie Verwirrung stiften, indem Sie dieses ruhmreiche Banner an sich reißen. »Wahrheit«, sagt Bacon, »geht eher aus Irrtum denn aus Verwechslung.«

Andere nennen diesen Mißbrauch vielleicht nur Frechheit infolge von Unwissenheit, denn sie behaupten, Sie hätten Nietzsche nie gelesen. Der Meinung bin ich nicht. Ich denke, Sie haben Nietzsche doch gelesen, aber wie ein Politiker, und zwar ein ganz vulgärer. In »Mein Kampf« schreiben Sie: »Nicht darauf kommt es an, was der geniale Schöpfer einer Idee im Auge hat, sondern auf die Form und den Erfolg, mit denen die Verkünder dieser Idee sie der breiten Masse vermitteln.« Ja, Sie haben wunderbar vermittelt! Ich muß Sie jedoch warnen, daß selbst Vermittlern und Weglassern Ihres Schlages Grenzen gesetzt sind und selbst populäre Politiker den Namen Nietzsche nicht ohne Gefahr für Ihren Ruf im Munde führen dürfen. Nietzsche ist Prüfstein und Falle in einem. Sogar Ihr Lehrer Chamberlain hat, wirrer Philosoph, der er doch war, diese Falle vermieden und zwischen sich und Nietzsche streng getrennt. Schon daß Sie als Schüler sowohl von Nietzsche als auch Chamberlain auftreten,  zeigt Ihre Begriffsstutzigkeit beim geistigen Erfassen, aber auch Ihre rasche geistige Verdauung: eine Verdauung, wie sie im Tierreich nur einer Spezies vorbehalten ist, durch die Sie aber fraglos und endgültig aus dem Reich Nietzsches ausgeschlossen sind.

Europa indes nimmt alles, was Sie sagen, für bare Münze, und abermals behindert die unselige Nation, auf die Sie so stolz sind, mein Lebenswerk. Und abermals erschallt der Aufschrei ausländischer Politiker – zum Beispiel von Sir Herbert Samuel (inzwischen Lord Samuel) im Unterhaus (am 21. März 1935), »Deutschland befindet sich nach wie vor unter Nietzsches verhängnisvollem Einfluß«. Niemand widersprach dem Lord (der in der Philosophie einen Namen hat), und das ist das Zeichen, daß ein neuer Feldzug gegen die »blonde Bestie« bevorsteht. Falls sie diesmal schwarz ist – wird man sagen –, ist sie nicht minder gefährlich als 1914, sondern noch gefährlicher, denn anders als der Kaiser und Chamberlain, die noch Christen waren, stolziert sie jetzt unter der Fahne des Atheisten Nietzsche und unter dem heidnischen Symbol des Hakenkreuzes.

Ja, Herr Hitler, Sie können alles Mögliche sein: Erlöser, Mörder, Volksredner, Schlafwandler oder alles vier auf einmal: Aber ich sage Ihnen, Sie sind es nicht wert, Nietzsche den Staub von den Schuhen zu wischen. Ihr Deutschtum ist das alte, falsche, beliebte Deutschtum – das 1918 geschlagen wurde –, das Deutschtum, das verurteilt wurde, nicht nur durchs Schwert, sondern auch durch die Feder aller großen Deutschen: von Goethe, Heine, Hölderlin, Grillparzer, Schopenhauer, Burckhardt, Spitteler genauso wie von Nietzsche. Es  ist das Deutschtum des Markplatzes und der Massen, das Deutschtum der Lautredner und Seichtdenker. Sie sind der Messias all dieser Armen, die durch Geburt und Bildung außerstande waren, sich zu entdeutschen, was laut Nietzsche immer das Kennzeichen eines guten Deutschen gewesen ist. Einen guten Deutschen von heute muß es tief betrüben, Ihrer Nation anzugehören,  und bestimmt errötet er jedesmal, wenn er an der Grenze seinen Paß vorzeigt. Vom nietzscheanischen Standpunkt betrachtet, sind Sie einfach ein schlechter Deutscher: Sie gehören nicht zur Welt des höheren Menschen, sondern zur  Welt des Untermenschen. Denn so hoch der Himmel sich über die Erde erhebt, so hoch steht Nietzsches Denken über den besten Ideen, die Sie jemals in Ihrem erlauchten Kopfe hegten.

Aber weil Sie zur Unterwelt gehören, schenkt die Welt, die heute nur aus Unterwelt besteht, Ihnen Gehör. Und diese Unterwelt umfaßt nun auch die Intellektuellen. Über sie wäre vieles zu sagen, hauptsächlich aber dieses: Sie sind ein Fluch und Ursache unseres Unglücks. Sie haben den Geist der Wahrhaftigkeit verraten. Wahrhaftigkeit ist in der Politik nicht immer nötig und mitunter sogar unmöglich – eine Tatsache, deren Sie sich in nachgerade unanständiger Weise bewußt sind! –, doch im Reiche von Wissenschaft und Philosophie ist Wahrhaftigkeit wesentlich, ja absolut notwendig. Denn der Verrat der Intellektuellen führt zum Versagen der Politiker, und das Versagen der Politiker führt zu unsinnigem Blutvergießen unter den Völkern. Nicht aufgeklärt von jenen, die sie aufklären sollten, halten die Nationen sich an die Messiasse, die nun keine klugen »Schriftgelehrten« mehr finden, die dem Königreich des Himmels entgegenwirken, das ein Reich von dieser Welt sein muß.

Die »Schriftgelehrten« von heute stellen sich nicht mehr wie die von damals gegen die Messiasse: Sie sind selbst Teil des Volkes, genau wie Sie. Und sie sind abhängig vom Volke, auch genau wie Sie. Sie haben noch weniger Zeit als Sie für Nietzsche, und selbst wenn sie Zeit hätten, hätten sie kein Gespür für ihn. Denn Gespür und Blut, Herr Hitler, das allein zählt: Das ist der einzige von allen Ihren Glaubenssätzen, den man uneingeschränkt und besten Gewissens gutheißen kann. Als Nietzscheaner wird man geboren, ein Nietzscheaner läßt sich nicht züchten, auch nicht in Ihren Napolas und Führerschulen. Nur ein einziger Nazi-Großvater – und wie Sie wissen, gab es schon vor Ihnen viele Nazis –, und kein Nachkomme taugt noch zum ehrlichen Schriftgelehrten und zum ehrenwerten Gast im Hause Zarathustras in den Bergen.

Geist formt das Blut, und Blut den Geist: den Geist der Wahrhaftigkeit. Aber diese Wahrhaftigkeit ist ein Produkt jüdischen Denkens und christlichen Bewußtseins: Nietzsche war nicht umsonst der Sproß einer langen Reihe protestantischer Pastoren. Ihre Frömmigkeit, ihre Ehrlichkeit kamen in ihm zur Blüte und zum Vorschein und trieben ihn schließlich dazu, sich gegen unsere Religion und unsere Moral zu wenden: Es sind demnach der Geist des Christentums und die christliche Disziplin von Generationen, die unseren Gott und seine Moral getötet haben. Sie wurden der strengen, aber berechtigten Zensur eines höheren Menschen unterworfen, der die Konsequenzen aus seiner Religion zog, der dem Glauben seiner Ahnen entwachsen war und deshalb alle Fanatiker und Messiasse verabscheute – die bis dahin die Hauptakteure und Hauptdarsteller, die Sprachrohre und Boten dieses Glaubens waren.

Wie konnten Sie, Herr Hitler, ein Bote, ein Erlöser, nur ein Patriot, es wagen, den Tempel Nietzsches zu betreten und an seinem heiligen Altar Ihre Andacht zu verrichten: Sie, der Erwählte des Volkes, schlimmer noch, der Erwählte Ihres Volkes? Sie, der vom Volk Erwählte? Wo sind Ihre Ahnen, wo ist Ihr Stammbaum, wo ist der Ausweis Ihrer Rasse und Ihrer Religion? Sie verabscheuen Judentum und Christentum gleichermaßen, aber glauben Sie tatsächlich, daß jeder Neuling das Recht hat, über eine Religion zu urteilen, die zweitausend Jahre lang die Welt regiert hat? Glauben Sie denn, was ein Nietzsche darf, dürften auch Sie? … Es gibt keine Gleichheit der Menschen, Herr Hitler: Das ist auch einer von Ihren Glaubenssätzen, dem wir uns voll und ganz anschließen können und es auch tun.

Aber Nietzsche, wahrer Prophet und Dichter, der er war, ahnte, daß seinen Altar dereinst unliebsame Besucher entweihen würden: »Ich will Zäune um meine Gedanken haben und auch noch um meine Worte: daß mir nicht in meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen!« sagte Zarathustra.

Nun ja, sie sind in seine Gärten gebrochen; Sie, Herr Hitler, sind eingebrochen: Sie sind kein Schwein, aber sein viel gefährlicheres Gegenteil: ein Heiliger und ein Schwärmer!

Und hier noch eine düstere Ahnung Nietzsches, eine, die auf die nazistischen Eindringlinge genau zutrifft. Sie findet sich in einem Brief des Philosophen von Mitte Februar 1884 an seine Schwester: »Und dann selbst noch macht mir der Gedanke Schrecken, was für Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen werden.«

Ja, sie haben sich auf seine Autorität berufen, sie sind eingedrungen, doch sie sollen sich nicht auf Nietzsche berufen können, ohne daß wir einen Protest und eine Bitte äußern.

Der Heilige Vater in Rom, Herr Hitler, hat, sosehr ihn Ihre Lehren erzürnen und auch erzürnen sollten, bislang noch nicht die für eine Exkommunizierung erforderlichen Maßnahmen ergriffen. Für dieses Zögern gibt es politische Gründe, aber selbstredend auch Bedenken, ob eine solche vom religiösen Standpunkt aus betrachtet sinnvoll ist. Natürlich kennt man in Rom Ihren Typus und dessen Gefahren, aber man weiß dort auch, daß man mit ihm verbunden, ihm nah verwandt ist. Denn Rom ist auf dem Boden Zions errichtet, und die Göttin Roms ist jene heilige Jüdin, die den Messias Roms, und nicht nur Roms, gebar. Daher das Zögern der Kirche gegenüber diesem nördlichen, neuzeitlichen Messias, der sich für einen Neu-Heiden hält und auch als solcher geschmäht wird. Doch an Ihnen ist weder Neues noch Heidnisches. Ein Heide fürwahr! Ein Heide mit Ihren Vorstellungen von Rassenunreinheit (wie der Jude Esra sie bereits vor 2500 Jahren verdammt hat – siehe das zehnte Kapitel seines Buches), mit Ihren Vorstellungen vom »Auserwählten Volk« (das »Salz der Erde«, wie das Evangelium die Nazis von damals nannte), mit Ihren Vorstellungen von einem »Königreich des Himmels«, das von dieser Welt sein soll und heute Großdeutschland heißt! Nein, Herr Hitler, Sie sind kein Heide – wir wollen doch nicht die Heiden beleidigen! – Und die Kirche tut unrecht daran, Sie durch dieses Wort herabzusetzen oder auch zu ehren. Ich sage Ihnen, was Sie sind: Sie sind ein Jude, ohne es zu wissen, ein Jude, der sich selbst nicht kennt, ein Jude, um dessentwillen wir zwei Jahrtausende zurückgehen müssen, bis zum Brief des Apostels Paulus an die Römer: »Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das nicht eine Beschneidung, die auswendig am Fleisch geschieht; sondern das ist ein Jude, der’s inwendig verborgen ist, und die Beschneidung des Herzens ist eine Beschneidung, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht.« Auf solche Juden unter den Heiden ist der Hl. Paulus besonders begierig … Er soll Sie haben!

Falls diese Bezeichnung Sie schaudern macht, Herr Hitler, kann ich es auch nicht ändern: Sie trifft trotzdem zu. Ihre Ketzerei ist eine jüdische.

Sie stehen der Kirche daher gar nicht so fern, wie Sie meinen. Die Kirche kennt oder ahnt zumindest diese Verbindung: und sie weiß auch, wie man Ketzer wie Sie benutzt. Die Kirche braucht Ketzer, und sie profitiert von ihnen: Denn eine Reaktion erfolgt immer, und deren Nutznießer ist regelmäßig die Kirche. Sie profitierte auch von Ihrem Landsmann, dem Ketzer Martin Luther: Er, den Sie so bewundern, restaurierte und erneuerte die katholische Kirche, welche im Untergang begriffen war. Deshalb kann oder wird die Kirche nicht hart gegen Sie vorgehen. Selbst die alten Juden, Sie erinnern sich doch (?), zögerten, ehe sie seinerzeit die Höchststrafe verhängten, und ohne die Römer wäre »das Lamm, das hinwegnimmt die Sünden der Welt«, nie geopfert worden. Aber jetzt sind keine Römer mehr im Lande – außer romantischen, Ihren Verbündeten.

Doch wir – die paar wahren Nietzscheaner in Ihrer falschen Welt – können und dürfen derlei Bedenken nicht tragen. Wir haben mit Ihnen nichts gemein. Was für Sie gut ist, ist für uns nicht gut, und was Ihnen als böse gilt, gilt uns nicht als böse. Unser Himmel ist nicht Ihr Himmel, und unsere Hölle nicht Ihre Hölle. Ja, Ihre Hölle ist sogar unser Himmel, und Ihr Himmel ist unsere Hölle. Es gibt eine Gemeinsamkeit – nämlich die gleichen Werte – zwischen Ihnen und der Kirche: Es gibt keine Gemeinsamkeit, sondern sogar eine tiefe Kluft – zwischen Ihnen und uns. Im Gegensatz zur Kirche profitieren wir nicht von den Ketzern. Wir sind, im Gegensatz zur Kirche, kein Hospital für neuzeitliche Heilige. Durch Nationalinvaliden wie Sie werden wir nicht endlich getröstet, sondern schwer kompromittiert. Und um ehrlich zu sein: Auch wir sind nicht immun gegen Ihre Jahrtausendkrankheit. Deshalb können wir Sie nicht nur mit gutem Gewissen exkommunizieren, sondern auch mit den besten Gründen: weil es notwendig ist.

Wir bitten Sie daher, verlassen Sie unseren Garten und gehen Sie wieder dorthin, wo Sie hergekommen sind, wo man Sie gerne sieht und Sie sich heimisch fühlen: zum Gelärme und Geschrei Ihres Marktplatzes. Wir verzichten auf härtere Maßnahmen, Ihre Maßnahmen: auf das Köpfe-rollen-lassen, wie Sie es nennen. Wir verzichten darauf, nicht weil wir machtlos, sondern weil wir anders sind: Ihre Maßnahmen können nicht unsere Maßnahmen sein, und unsere Mittel werden wirksamer sein als Ihre. Der Liktor, der uns begleitet, hat kein Beil in seinem Rutenbündel, aber er hat eine scharfe, tödliche Waffe: Unser Liktor ist das Lachen. Schluß mit den Kreuzigungen von Göttern oder Lämmern, Heiligen oder Sündern.

Denn Sie sind letztlich nicht Sünder, sondern Opfer. Ein Opfer unserer religiösen Werte. Ein Opfer der Juden, die diese Werte geschaffen haben. Nicht sie sind Ihre Opfer, sondern Sie das ihre.

Sie sind geschlagen mit dem Fluch des Idealismus (und noch stolz darauf), aber der Idealismus ist jüdischen Ursprungs, und diesen jüdischen Idealismus, nicht etwa die neuzeitlichen Juden, hat Nietzsche zeitlebens angegriffen und in seinen besten Büchern bekämpft. Vor diesen Werten hat er uns gewarnt, besonders wenn sie in religiös-politischem deutschem Gewand auftreten. Er kannte ihre Gefahr, und Sie sind der Beweis, daß seine Befürchtungen berechtigt waren. Diese Werte haben jetzt ihren Höhepunkt erreicht und kommen mit Ihnen und an Ihnen zur Entladung.

»Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden – auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus«, sagt Zarathustra. Sie sind der Wahnsinn, wir sind die Vernunft. Und unsere Vernunft, nicht unsere Ohnmacht, macht uns gegen Sie nachsichtig und verständnisvoll. Verständnis vertreibt Haß: Haß ist Mangel an Verständnis.

Wenn Sie dann unseren Garten verlassen, Herr Hitler, gehen Sie hin in Frieden und unbehelligt von Verwünschungen und Racheschreien. Wir wollen Ihnen nicht ans Leben, wir wollen nur, daß Sie gehen.

Doch gehen müssen Sie!

Mein Führer, darf ich Sie zur Tür geleiten?

Paris, 21. Juni 1938

Aus dem Englischen von Heide Lipecky

SINN UND FORM 3/2007, S. 348-362