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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-72-0

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Leseprobe aus Heft 4/2023

Röckel, Susanne

Drei Bilder aus Vilnius


(…)
2. Paneriai
Die Fahrt dauert acht Minuten und kostet hin und zurück 1,76 Euro. Man sitzt in einem warmen, bequemen Zug und wenn man aussteigt, ist man in einem durchschnittlich häßlichen Vorort mit Wohnblock aus der Sowjetzeit; Einfamilienhäusern, Gemüsegarten und Supermarkt. Es gibt ein Schild: Paneriu˛ Memorialas mit einem Pfeil, dem ich vertrauensvoll folge. Der Weg führt in den Wald. Bald ist er nicht mehr geteert. Die Hauser sind alt und aus Holz. Zwei Betrunkene gehen schwankend vor mir her und verschwinden hinter einem rostigen Tor. Auf einer Veranda sind Unterhosen zum Trocknen aufgehängt. Hundegebell ist zu hören. Habe ich mich verirrt? Ich suche jemanden, der mir Auskunft geben kann, aber alles ist wie ausgestorben. Zwischen den Kiefern steht ein halbgebautes Haus. Ein Mann sägt Dämmstoff. Ich spreche ihn an, frage ihn nach dem Weg zur Gedenkstatte. Er ist jung und blond und hat nur noch wenige Zähne im Mund. Gedenkstätte? Er weiß nichts davon. Er deutet in Richtung Bahnhof und kommentiert mit freundlichem Lacheln: »Maybe! Maybe!«
Also trotte ich zurück. Dann setzt mein Atem aus: Zwei große Hunde fangen plötzlich neben mir zu bellen an, springen an einem nicht sehr verläßlich aussehenden Gitterzaun hoch. Was für ein Ort ist das? Wo bin ich? In der Ferne ein Mann, der in ein Auto einsteigt. Ich renne hin, gestikuliere schwitzend und atemlos, zeige ihm das Wort »Gedenkstätte« auf dem Handy. Endlich versteht er. Er bedeutet mir einzusteigen und fährt mich schweigend eine kurze Strecke bis zu einem leeren Parkplatz. Ich bin am Ziel. Gepflasterter Eingangsbereich im lichten Kiefernwald, schwarzer, beschrifteter Marmor, Hinweistafeln in vier Sprachen, ziemlich verwittert, ein geteerter Weg, gesäumt von grünspanüberzogenen Laternen. In einer großen, unregelmäßigen Schlaufe mit neunzehn Haltepunkten zieht sich der Weg durch die Anlage. Ich habe das seltsame Gefühl, in eine Abgeschiedenheit einzutreten, die mit jedem Schritt tiefer und undurchdringlicher wird. Vielleicht nur deshalb, weil ich zu dieser Stunde die einzige Besucherin bin.
Zur Geschichte der Gedenkstatte gehört, als deren oberste Schicht, die Geschichte der hier aufgestellten Denkmaler. Aus ihr ist zu erfahren, daß auch die vermeintlich eindeutigsten Tatsachen der politischen Bewertung unterliegen und geschichtliche Wahrheiten nicht zu trennen sind von Standpunkten und Perspektiven. Nachdem die Sowjets das 1948 von Überlebenden errichtete Mahnmal für die hier ermordeten Juden abgebaut hatten, setzten sie an derselben Stelle einen mit dem roten Stern gekrönten schwarzen Obelisken, der die Inschrift »Zum Gedenken an die Opfer des Faschismus« trug. (Er steht heute noch, etwas abseits vom Weg.) Wenige Jahre später wurde ein weiterer Gedenkstein aus schwarzem Marmor errichtet, russisch und litauisch beschriftet, für die »mehr als hunderttausend sowjetischen Burger, die in Paneriai erschossen wurden«. Erst 1989, auf Initiative der litauischen Jüdischen Gemeinde, wurde dieser Stein durch einen Granitblock erweitert, auf dem in Hebräisch, Jiddisch, Litauisch und Russisch steht, das sich unter den »im Wald von Paneriai Getöteten siebzigtausend Juden befanden: Männer, Frauen und Kinder«. 2004 wurde der ursprüngliche Text des Gedenksteins mit einer Marmorplakette verdeckt, auf der nicht mehr von sowjetischen Bürgern, sondern von »hunderttausend in Paneriai getöteten Menschen« die Rede ist. Das heute zentrale Denkmal für die an diesem Ort ermordeten Juden wurde 1991 von den litauischen Jüdischen Gemeinden zusammen mit den litauischen Juden in Israel und der Republik Litauen errichtet. Auf der Vorderseite des aus grauen Steinblöcken zusammengesetzten Monuments ist die Menora zu sehen, darüber eine Inschrift mit hebräischen Buchstaben und der Davidstern. Auf der Rückseite Inschriften in Litauisch, Russisch und Englisch und die eingravierte abstrahierte Zeichnung einer menschlichen Figur mit erhobenen Armen. Die englische Inschrift lautet: »Eternal Memory of 70 000 Jews of Vilnius and its environs who were murdered and burnt here, in Paneriai, by Nazi executioners and their accomplices«. Hier liegen Kränze, hier liegen zahllose beschriftete Steine, die Besucher als Erinnerungszeichen hinterlassen haben. Nach und nach sind weitere Mahnmale dazugekommen: für die polnischen und litauischen Opfer, für einzelne jüdische Opfergruppen. Für die etwa hundert Opfer der Roma gibt es nicht mehr als einen sehr kleinen, schon halb im Boden versunkenen »symbolischen« Steinkreis. Auch ein seltsam asymmetrisches, an ein im Boden feststeckendes Geschoß erinnerndes Museum gibt es, in dem, laut meinem Reiseführer, »persönliche Gegenstände« zu besichtigen sind, es ist aber geschlossen, und zwei weithin stinkende Dixi-Klos.
Arunas Bubnys, der Leiter des litauischen »Genozid- und Widerstandsforschungszentrums«, sagte mir einige Tage vor meinem Besuch in Paneriai, er bemühe sich seit Jahren darum, genug Geld zusammenzubringen, damit man dort endlich ein großes Museum bauen könne. Bis jetzt sei so etwas noch nicht in Sicht. Der »vorherrschende historische Diskurs« konzentriere sich nach wie vor auf die Verbrechen der Stalinzeit. Da es fast keine Familie gebe, die nicht in irgendeiner Weise davon betroffen war, da sich überdies durch die jüngsten Ereignisse zeige, daß die Gefahr einer Wiederholung der schlimmsten Erfahrungen seiner Generation keineswegs gebannt sei, halt er die gründliche Aufarbeitung dieser Zeit für dringend nötig. Doch es bleibe schmerzlich, sagt Bubnys, daß die Forschung zu den Geschehnissen während der deutschen Besatzung nur über unzureichende Mittel verfüge. Die Aufgabe, besser und umfassender über diese Zeit aufzuklären, dürfe nicht vernachlässigt werden. Also ein großes Museum in Paneriai – Vitrinen, Schautafeln, Videos, Führungen, ein Souvenirshop, ein gemütliches Cafe – statt diesem karg und provisorisch ausgestatteten, abgelegenen Ort im Wald?
Auf meinem Weg über das Gelände, dessen Einschnitte und Erhebungen im wesentlichen noch so aussehen, wie sie die Russen 1944 vorfanden, begleitet mich durchdringender industrieller Lärm. Woher er stammt – Güterbahnhof? Autobahn? –, kann ich nicht sagen, aber im Lauf meines Rundgangs nehme ich ihn immer wieder mit Erleichterung wahr. Denn er verschwindet hinter den mehr oder weniger hohen Wällen, auf denen die Wachen standen. Sobald man unten ist, am Rand der Gruben, hört man nichts mehr von der Außenwelt. Man ist der Stille ausgesetzt. Der Boden der Gruben, zwanzig oder dreißig Meter im Durchmesser, ist mit Rasen bedeckt, die Ränder sind mit grauen Steinen markiert. Die Menschen mußten sich ausziehen und wurden durch schmale Rinnen gruppenweise hergetrieben. Von den deutschen Einsatzgruppen befehligt, erschossen die Mitglieder der litauischen Hilfspolizei im Abstand von ca. fünf Metern einen nach dem anderen. Dann wurde die nächste Gruppe an den Rand geführt, die Prozedur begann von neuem, mit einer Durchschnittsrate von hundert getöteten Individuen pro Stunde. Geraubte Kleider und Habseligkeiten wuchsen zu Bergen an. Die Gruben füllten sich mit Leichen. Kinder schrien. Sterbende röchelten. Die Schießenden bekamen Schnaps.
Eine der Gruben hat zementierte Ränder. Das war der »Bunker«. Hier wurden die 76 »Brenner« gefangengehalten, die, in Ketten gelegt und von SS-Männern bewacht, zwischen 1943 und 1944 die Aufgabe hatten, die Spuren der Massaker zu verwischen. In der Mitte steht eine Nachbildung der schmalen hölzernen Rampe, die benutzt wurde, um die aus mehreren Schichten bestehenden Leichenpyramiden zu bauen, mit Maschinenöl zu übergießen und in Brand zu setzen. Am 15. April 1944 machten diese ausgelaugten und zertretenen, doch todesmutigen Sklaven einen Ausbruchsversuch, in dessen Verlauf fast alle von ihnen von den Deutschen aufgespürt und erschossen wurden. Grüner Rasen, mit Kiefernnadeln und welken Blattern bedeckt. Nichts mehr zu sehen von den hölzernen Umzäunungen, hinter denen Männer, Frauen, Kinder, Greise ausharren mußten, bevor man sie zu den Erschießungsgruben trieb. Nichts mehr von den Feuern und ihrem schwarzen Rauch. Nichts mehr von dem unterirdischen Gang, den die Insassen des ≫Bunkers≪ mit Löffeln und mit Fingernageln in die kalte Erde bohrten. Nichts mehr von Minen und Stacheldraht. Und nichts mehr zu hören von all dem. Keine Schreie mehr, keine gebrüllten Befehle, kein betrunkenes Gelächter, kein Hundegebell, kein Weinen, kein Beten, nichts mehr vom ohrenbetäubenden Knallen der Schüsse, nichts vom dumpfen Geräusch der Schläge mit Fäusten, mit Stöcken, mit Gewehrkolben – nichts. Stille – und darin meine verworrenen Gedanken, meine vagen, beklommenen Gefühle. Ich versuche festzuhalten, was mich bewegt: Mir ist kalt. Ich will nicht hier sein. Ich will nicht wissen, was hier geschah!
Tima Kats, eine Lehrerin aus Vilnius, der 1941 zusammen mit fünf oder sechs weiteren Frauen die Flucht aus einer der Gruben gelang, schreibt: »Wir kamen [nach der Fahrt vom Lukišk ˙es-Gefängnis auf einem Lastwagen] in eine hügelige, bewaldete Gegend, wo wir uns müde und voller Schrecken auf den sandigen Boden legten. Aus nächster Nähe waren Gewehrsalven zu hören. Aber selbst jetzt konnte sich keiner von uns vorstellen, was hier wirklich geschah.« Auch ich kann es mir nicht vorstellen. Vielleicht ist überhaupt kein einzelnes Gehirn in der Lage, es sich vorzustellen. Wirken die Höllenbilder, die Hieronymus Bosch sich ausdachte, gegen das hier nicht geradezu putzig? Und wer käme darauf, die gelehrten und eleganten Verse Dantes auf das Inferno anzuwenden, das hier Realität geworden ist? »Meister der Hölle, willst du ein Weilchen die Höllen tauschen?« fragt Avrom Sutzkever herausfordernd-sarkastisch in seiner »Ode an die Taube« (aus den »Gesängen vom Meer des Todes«) und fährt im selben Ton fort: »Ich spaziere in deinen, und du in den wirklichen Feuern …« Muß angesichts dieser »wirklichen Feuer« nicht jeder Versuch der Bebilderung scheitern? Wäre ein noch so wohlmeinendes modernes, staatlich finanziertes Museum nicht im Grunde eine Maßnahme der Einhegung und damit der Verkleinerung des Grauens? Andererseits: Gehören nicht Bilder, Kommentare, Erklärungsversuche zu den notwendigen Mitteln, um jene Vergangenheit aufzubewahren, die, von gegenwärtigen Konstellationen überdeckt, immer wieder in Vergessenheit zu geraten droht? Nicht Monster, sondern gewöhnliche Menschen haben diese Vergangenheit hergestellt. Nicht Monster, nicht perverse Sadisten, sondern gewöhnliche Menschen – meine Landsleute – sind fähig gewesen, anderen Menschen die Hölle zu bereiten. Würde mit dem Verlorengehen dieser Einsicht nicht auch die grundlegende zivilisatorische Wachsamkeit an den Grenzen von Moral und Recht erlahmen?
So oder ähnlich lauten meine Gedanken, während ich dem Weg der Gedenkstätte folge, diesem glatten, sauberen, fürsorglichen Weg, der zu den Stätten der Hölle führt – aber schließlich auch wieder zurück. Ich schlendere dahin, als wäre ich auf einem unschuldigen herbstlichen Spaziergang, auf diesem Weg, der doch keinen Zentimeter weit unschuldig ist. Und dann bin ich wieder draußen und gehe, an den Holzhäusern vorbei, an den Gemüsegarten vorbei, an den Gleisen entlang zum Bahnhof zurück. Noch einmal drehe ich mich um und bekomme Angst: Ein großer Hund, von irgendwoher gekommen, läuft mir nach. Noch einmal steht alles auf, was ich über Paneriai gelesen und was ich hier gesehen habe, und es ist, als berührte mich die geisterhafte Hand jener Wirklichkeit – dann aber ist der herannahende Zug zu hören, der mich zurückbringen wird nach Vilnius, der Hund ist weg und ich gehöre wieder ganz der Gegenwart. Am Ende des Gesprächs mit Arunas Bubnys frage ich ihn, ob es in letzter Zeit Aktivitäten rechtsextremer Gruppierungen gegeben habe, die er als gefährlich einschätzen wurde. Er verneint. Allerdings seien die Mahnmale in Paneriai vor kurzem mit Graffiti geschändet worden. Nicht mit Hakenkreuzen, sondern mit einem neuen Symbol, einem einzigen, schnell hingepinselten Buchstaben: Z. (…)

SINN UND FORM 4/2023, S. 466-477, hier S. 470-474