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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-74-4

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Leseprobe aus Heft 6/2023

Wodin, Natascha

»Man kann den Abgrund nicht beschreiben, solange man sich darin befindet«.
Ein Gespräch mit Tanja Walenski über die Angst, das Unsagbare und Wörter als vorletzte Wahrheit


TANJA WALENSKI: Ihr Leben erscheint wie das Aschenputtel-Märchen. Im September 2022 haben Sie mit dem Joseph-Breitbach-Preis einen der höchstdotierten Literaturpreise der Bundesrepublik verliehen bekommen. Noch immer erreichen Sie Einladungen zu Lesungen in der ganzen Welt. Aber nicht im Licht hat Ihr Leben begonnen, sondern als Kind von Zwangsarbeitern in Dreck und Armut. Sie waren immer Außenseiterin – als Mädchen, als Bürgerin, als Schriftstellerin. Ist da ein Wunder geschehen? Oder liegt Ihrem heutigen Erfolg ein hart erarbeitetes Lebenswerk im Schreiben zugrunde?

NATASCHA WODIN: Das Schreiben kann in der Tat sehr hart sein, aber ich habe nie an einem Lebenswerk gearbeitet. Daß ich immer mit den Worten kämpfen mußte, gehörte einfach dazu, es liegt in der Natur der Sache und hat nie etwas daran geändert, daß das Schreiben mein Ort war, meine Zuflucht, meine Arche. In meinem Leben sind mir mehrere Wunder widerfahren, und das größte war zweifellos, daß ich meine Mutter gefunden habe – sechzig Jahre nach ihrem Tod. Ich konnte das Buch »Sie kam aus Mariupol« schreiben, das war ein großes Glück für mich. Das zweitgrößte Wunder war der Erfolg des Buchs, das inzwischen die zehnte Auflage erreicht hat und in alle möglichen Sprachen übersetzt wird. Menschen in Vietnam, in Griechenland, in Japan lesen jetzt die Geschichte meiner Mutter. Das hätte sie sich nie träumen lassen, und ich mir auch nicht.

WALENSKI: Ihre Beziehung zur Welt war lange zwiespältig, sie erinnert an Christa Wolfs Medea. Diese Figur lebt vereinsamt in einer Höhle, an einem Ort innerhalb und gleichzeitig außerhalb der Gesellschaft. Durch Ihre Angsterkrankung Agoraphobie sind Sie jahrzehntelang kaum aus der Wohnung gekommen. Haben Sie einen Großteil Ihres Lebens verpaßt?

WODIN: Eindeutig ja. Meine Außenweltphobie war noch weitaus schlimmer als meine Kindheit. In meiner Kindheit und Jugend hatte ich wenige Chancen, später, als ich zu schreiben und zu veröffentlichen begann, öffneten sich mir viele Türen. Aber ich konnte durch kaum eine dieser Türen gehen, ich konnte die Angebote, die mir das Leben machte, nicht annehmen und blieb gefangen in den Mustern meiner Kindheit. Das ist auf jeden Fall die psychologische Deutung. In meiner Kindheit, als ich wirklich von vielem bedroht war, hatte ich keine Angst. Aber als ich so etwas wie ein rettendes Ufer erreicht hatte, stürzte die Angst wie ein nicht endender Steinschlag auf mich ein. Eine Angst ohne jeden Grund. Der einzige Grund war die Angst selbst, die Angst vor der Angst. Ich lebte wie eine Gefangene in jeder meiner Wohnungen, immer auf den nächsten Einschlag der Angst gefaßt. Das Leben ging an mir vorbei, ich saß immer nur am Schreibtisch und suchte nach Worten für das, was mir widerfuhr. Ich habe diese Worte nie gefunden. So sind meine Bücher entstanden – auf der Suche nach den Worten für die Angst, den Worten für ein Buch, mein eigentliches Buch, das ich nicht schreiben konnte.

WALENSKI: Haben Sie sich aus dem Leben herausgeschrieben oder ins Leben zurückgeschrieben?

WODIN: Beides.

WALENSKI: Die Publikation von »Sie kam aus Mariupol« mit zweiundsiebzig Jahren war der Wendepunkt. Aus sozialer Isolation heraus wurden Sie ins Licht einer großen Öffentlichkeit katapultiert. Woher kam der Mut, plötzlich im Rampenlicht vor Hunderten Menschen zu lesen und zu sprechen?

WODIN: Es war der Mut der Verzweiflung. Ich wußte, daß es meine letzte Chance war. Hätte ich abgelehnt, wäre die Tür zur Welt für immer zugeschlagen, wäre ich wohl nie mehr herausgekommen aus meiner fast lebenslangen Einzelhaft. Am Anfang war jede Lesereise ein Alptraum. Inzwischen ist es Routine geworden. Das genieße ich immer wieder: daß das einst Schrecklichste etwas Alltägliches und sogar Erfreuliches geworden ist.

WALENSKI: »Einzelhaft«: Der französische Philosoph Gilles Deleuze sagte einmal, im Akt des Schreibens liege der Versuch, das Leben aus dem zu befreien, was es einkerkert.

WODIN: Das Schreiben kann selbst zum Kerker werden in dem Versuch, aus dem Kerker auszubrechen. Aber das Ausgangsmotiv ist zweifellos immer auch das Verlangen nach Befreiung, man möchte seine eigenen inneren Grenzen überwinden, die Not und Verzweiflung, in der man eine existentielle Verengung erlebt. Es ist auch der Versuch, dem Tod zu entkommen, die irrwitzige Hoffnung, Unsterblichkeit zu erlangen.

WALENSKI: »Sie kam aus Mariupol« wurde inzwischen in sechzehn Sprachen übersetzt, darunter ins Ukrainische und Chinesische. In dem 1,4-Milliarden-Einwohner-Land stand es mit fünfzehn Auszeichnungen auf der »Annual Awards List 2021«, darunter auf Platz 3 in der Kategorie der besten sozialwissenschaftlichen Dokumentationen. In der Topliste der Frauenliteratur – ausgewählte Literatur von Frauen für Frauen – werden Sie als »Hüterin des weinenden Feuers« geführt. Weshalb sind die Chinesen so berührt von Ihrem Text?

WODIN: Das ist mir selbst ein Rätsel. Ich habe gehört, daß dort auch Holocaust-Literatur hoch im Kurs steht. Es soll so etwas wie Stellvertreterliteratur für die Chinesen sein, die noch keine Möglichkeit hatten, ihre eigene traumatische Geschichte zu bearbeiten. So wenden sie sich erst einmal an Bücher aus anderen Ländern, in denen sie auf die politische und persönliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stoßen. Aus keinem anderen Land, in dem meine Bücher übersetzt wurden, kamen so betroffene, gefühlsstarke Reaktionen. Aus China hatte ich das am wenigsten erwartet, da den Chinesen ja der Ruf besonderer Verschlossenheit anhängt. Auch die Buchcover sind mit einer ungewöhnlichen Emotionalität gestaltet, sehr intelligent und gleichzeitig so dramatisch, wie wir es uns hier wohl kaum je erlauben würden. Könnte ich eine so weite Reise noch bewältigen, würde ich nach China reisen. Das Land interessiert mich sehr.

WALENSKI: Ausgerechnet ins Russische wurde der Text bislang nicht übersetzt.

WODIN: Nein, ins Russische wurde nie etwas von mir übersetzt. Ich scheine dort nicht in die Landschaft zu passen. Ich weiß nicht, ob das politische oder ganz andere Gründe hat. Vielleicht besteht bei den Lesern kein Interesse daran, wie eine im Ausland geborene und lebende Russin Rußland sieht. Im Grunde bin ich darüber aber nicht unglücklich, weil Rußland immer eine sehr ambivalente Liebe war, immer auch Beunruhigung und Verwirrung. Hätte man mich dort übersetzt, wären wohl neue Beziehungen entstanden und hätten wieder an die frühere Ambivalenz gerührt, an eine einst lebensgefährliche Wunde, die inzwischen verheilt ist.

SINN UND FORM 6/2023, S. 725-738, hier S. 725-727