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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-76-8

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Leseprobe aus Heft 2/2024

Brecht, Bertolt

»Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Käthe Reichel


Vorbemerkung

Helene Weigel empfiehlt Bertolt Brecht 1950 eine junge talentierte Schauspielerin. Sie hat Waltraut Reichelt im Februar in Rostock in der Inszenierung »Herr Puntila und sein Knecht Matti« unter der Regie von Egon Monk gesehen. Brecht engagiert Käthe Reichel, wie sie sich später nennt, nach einem kurzen Vorsprechen im Oktober 1950 für das Berliner Ensemble. Er ist zu dem Zeitpunkt zweiundfünfzig Jahre alt, ist ein gefeierter Dichter, Schriftsteller und Theatermann und hat lange Exiljahre überstanden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland versucht er in Ostberlin eine eigene Theatertruppe, das Berliner Ensemble, aufzubauen, das zunächst noch als Gast am Deutschen Theater spielt. Käthe Reichel ist gerade vierundzwanzig, als sie Brecht im Oktober begegnet. Bis dahin hat sie sich vor allem durchgeschlagen: Sie ist in einfachen Verhältnissen in Berlin Mitte aufgewachsen, kannte von frühester Kindheit an Existenzängste und Hunger, war aber mutig und dreist genug, nach Ende des Krieges ans Theater zu gehen und zu behaupten, sie sei Schauspielerin, ihre Zeugnisse seien im Bombenhagel verlorengegangen. Sie wird zunächst in Greiz engagiert, dann in Gotha und Rostock. Anschließend wechselt sie ans Berliner Ensemble. Am 12. Januar 1951 schreibt Käthe Reichel ihren ersten Brief an Brecht: »Allerherzlich danke ich für die Hilfe und große Freundlichkeit, die Sie mir bei meinen ersten Gehversuchen in Berlin, in so reicher Zahl erwiesen haben. Ich danke sehr und bin ganz ergeben Ihre Käthe Reichel«.
Brecht fördert die junge Schauspielerin, unterstützt sie beim Rollenstudium. Schnell scheinen beide sich nahegekommen zu sein. Vermutlich im Sommer 1951, der Brief ist nicht datiert, sendet Brecht ihr »10 Vorschriften«: »lieber k., hier sind 10 vorschriften, bitte studier sie nicht daraufhin, ob sie gerade für dich gemünzt sind. Sie sind für dich geschrieben, aber nicht auf dich gemünzt. (1 z.b. bedeutet nicht, dass ich bei dir laschheit gesehen habe. aber ich sah die anspannung und wenn du sie vermeiden willst, dürfte es nicht durch laschheit geschehen. von 3 erliegst du nur der verführung zur absonderung ein wenig. 4 und 7 musst du beachten. auch 8.) praktische vorschläge«. Käthe Reichel bedankt sich am 16. September 1951. Sie befindet sich zu einem Erholungsaufenthalt auf Schloß Wiepersdorf in Brandenburg, dem ehemaligen Wohnsitz von Achim und Bettina von Arnim. Schon kurz nach ihrer Bekanntschaft mit Brecht muß sie verstehen, daß sie ihn nicht für sich allein haben kann, was für sie schwer zu ertragen ist. Die aus diesen Tagen erhaltenen Briefe erzählen von einem vertrauten Umgang miteinander, immer wieder hört man auch Reichels Berliner Tonfall heraus, mit dem sie zwischen Frechheit und Verehrung für Brecht changiert.
Im Sommer 1952 ist Käthe Reichel offenbar erneut zur Kur. Auch in dieser Zeit halten die beiden engen Kontakt. Brecht zeigt sich sachlich fürsorglich, Reichels Briefe sind gefühlvoller, bringen ihre Verliebtheit und Sehnsucht zum Ausdruck. Er schreibt von seiner Arbeit, von den Stücken, die ihn beschäftigen, und von den Rollen, die sie spielen soll. Sie wiederum berichtet kleinteiliger und ausführlicher, schildert ihr Tagewerk und spricht immer wieder von ihrer Zuneigung zu ihm.
Daß es eine enge Beziehung zwischen Brecht und Reichel gibt, bleibt auch den Mitarbeitenden, den Schauspielern und Schauspielerinnen am Berliner Ensemble nicht verborgen. So schreibt etwa Regine Lutz in einem Brief an ihre Eltern vom 21. September 1952 bezüglich der Rolle der Manuela in »Die Gewehre der Frau Carrar«, diese bekäme wohl »die Reichel, die Freundin vom Brecht«.
1955 geht Käthe Reichel als Gast an die Städtischen Bühnen in Frankfurt. Sie kehrt nicht mehr fest ans Berliner Ensemble zurück. Der Kontakt zu Brecht bleibt bestehen, sie bekommt sogar ein bescheidenes Häuschen in Buckow von ihm geschenkt. Auch dieses Haus ist Gegenstand der Briefe. Reichel hat es zunächst gepachtet, will es aber besitzen. Sie will nie wieder aus einer Bleibe hinausgeworfen werden, wie sie es als Kind erleben mußte. Brecht gewährt ihr den Wunsch. Das Haus befindet sich in der Nähe von Brechts und Weigels Sommersitz am Schermützelsee. Reichel ist, außer Ruth Berlau, der er ein Haus in Dänemark schenkte, die einzige von Brechts zahlreichen Mitarbeiterinnen und Freundinnen, die ein solches Unterpfand bekommt.
Aus dem gesamten Briefwechsel sticht ein Stück besonders hervor. Ein Brief ohne Datum, ohne Anrede, ohne Unterschrift, der in der Forschungsliteratur schon Käthe Rülicke zugeordnet wurde, aber sicher von Käthe Reichel stammt. Indizien wie die Schreibmaschinentypen und Besonderheiten in Ausdruck und Interpunktion sprechen eindeutig für sie als Verfasserin. Für ihre Perspektive auf die Beziehung zu Brecht ist er besonders aufschlußreich: »Daß man Dir keinen Liebesbrief schreiben kann, all den törichten Unsinn, den man denkt, nie sagt, den man höchstens schreibt – nur Dir nicht – das ist schlimm. Sicher verstehst Du gar nicht was ich meine (ich meine das Bedürfnis, jemanden zu streicheln, auf die Augen zu küssen – Deine Augen sind lustig und listig – solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich). Du ›betrachtest‹ alles, immer produktive Folgerungen ziehend – d. h. es gibt wenige, ganz wenige und seltene Sekunden, wo Du es nicht mehr tust! Wie ich diese Sekunden liebe!!!«
Für Brechts Sicht der Dinge ist ein Brief mit angefügter Keuner-Geschichte bezeichnend. Er schreibt ihr (ohne Datum): »liebe kattrin, nach alldem argen: wäre es nicht gut, wenn du mir alles gäbst, was du an freundlichkeit geben kannst und von mir alles nähmst, was ich an freundlichkeit dir geben kann und wir nähmen als maass der freundlichkeit handlungen? dann wäre keine frage nach dem was fehlt, dann gäbe es eine zuversicht von dem was da ist. es gibt nichts besseres als freundschaft; was darüber hinaus ist, ist nur gut, wenn es die freundschaft gibt.«
Insgesamt liegen 99 Briefe vor. 33 davon tragen ein Datum, 66 keines, was die chronologische Zuordnung erschwert. Über Hinweise und Bezüge wurde dennoch versucht, eine sinnvolle Reihenfolge und Gliederung zu erstellen. Kurz vor Redaktionsschluß kamen zu den bereits bekannten 84 Briefen, die sich im Archiv Darstellende Kunst und im Bertolt-Brecht-Archiv der Akademie der Künste befinden, 15 Schriftstücke hinzu, deren Sperrung gerade erst abgelaufen war. Ein Glücksfall, denn darunter waren Antworten auf bereits vorhandene Briefe, außerdem werden die Hintergründe von Reichels Frankfurter Engagement näher beleuchtet. Die hier vorgelegte Auswahl umfaßt 22 Briefe von Käthe Reichel und 21 von Bertolt Brecht. Außerdem existieren 12 kurze Zettelgrüße, die alle kein Datum tragen und hier nicht abgedruckt werden.
Die Briefe sind mit wenigen Ausnahmen mit der Schreibmaschine geschrieben, von Brecht in seiner bekannten Kleinschreibung. Die Zettelgrüße wurden meist per Hand verfaßt. Auffällig sind Brechts Anreden »lieber k.« sowie »liebe kattrin«. Sie schreibt immer an ihren »lieben Bert«.
Den letzten Brief an Bertolt Brecht schreibt Käthe Reichel am 22. August 1956, nicht wissend, daß er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lebt. Sie ist auf einer Reise durch den Kaukasus und berichtet ihm von dort, von einer langen Überfahrt über das Schwarze Meer und von einer Sternschnuppe, bei deren Anblick sie seinen Namen ausspricht, weil Leute ihr erzählt hätten, das bringe Glück.
Das Berliner Ensemble verläßt sie endgültig nach Brechts Tod und wird festes Mitglied am Deutschen Theater. Als Schauspielerin macht sie noch auf vielen Bühnen und auch beim Film Karriere. Immer wieder ist sie politisch aktiv. 1989 ist sie Mitinitiatorin der großen Massenkundgebung vom 4. November auf dem Alexanderplatz und nach der Wende hungert sie mit den Kali-Kumpels von Bischofferode für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. 1996 erhält Käthe Reichel den Alternativen Nobelpreis für die Kampagne »Mütter, versteckt eure Söhne«, eine Aktion gegen den Tschetschenien-Krieg. Ab 2001 tritt Käthe Reichel mit einer eigenen Fassung von Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« auf und trägt das Drama als Ein-Personen-Stück vor.
Brecht bleibt zeit ihres Lebens der wichtigste Mann für sie. Seinem Eindruck konnte und wollte sie sich nie entziehen. Dem Medium, das sie verbunden hat, ist sie treu geblieben und hat mit dem Buch »Windbriefe an den Herrn b.b.« 2006 noch einmal 45 Briefe an den Abwesenden gerichtet. 2011 veröffentlicht sie ihre Autobiographie unter dem Titel »Dämmerstunde – Erzähltes aus der Kindheit«. Käthe Reichel ist 2012 in ihrem Haus in Buckow gestorben.

Helene Herold

SINN UND FORM 2/2024, S. 149-181, hier S. 149-151